Radikalisierung junger Männer

Wenn man sich die Kriminalstatistik ansieht, müsste eigentlich eine Bevölkerungsgruppe auffallen, die massiv überproportional vertreten ist – aber niemand spricht darüber: Es sind Männer. Aber wieso reden wir dann nicht darüber, dass 85 % der Verbrechen von Männern begangen werden, egal welcher Staatsangehörigkeit? Sie werden eher gewalttätig und radikalisieren sich leichter. Ein Großteil der Attentäter und Terroristen sind tatsächlich Männer. Laut Terrorismus- und Extremismusbericht des Bundeskriminalamts Deutschlands vor allem ledige junge Männer. Was hat Männlichkeit mit Radikalisierung zu tun?

Darüber rede ich heute mit Ahmad Mansour. Er war selbst auf dem Weg zum radikalen Islamisten, seit der Kehrtwende aber gegen Radikalisierung arbeitet. 

Radikalisierung und Männlichkeit

Patrick Catuz

Ich habe das Gefühl, die Debatte um Radikalisierung dreht sich sehr, sehr häufig um Fragen einer spezifischen Herkunft oder einer Religion. Welche Rolle spielt Männlichkeit bei Radikalisierung? 

Ahmad Mansour

Patriarchalische Strukturen oder die Zementierung von Machtverhältnissen zwischen Mann und Frau – traditionelle Männlichkeitsbilder haben eine gewisse Legitimation in diesen Ideologien. Wenn ich da ein Problem habe, suche ich mir diese traditionellen Vorstellungen, finde ich Islamismus oder Rechtsextremismus eigentlich attraktiv, weil er mir das gibt, was ich erwartet habe. Ob das beim IS oder bei Neonazis ist – dort wird toxische Männlichkeit propagiert oder auch die Abwertung von Frauen, traditionelle Familienbilder, wo der Mann der Ernährer, der Beschützer ist und die Frau sich unterordnet. 

Patrick Catuz

Sie haben mal gesagt, dass Jungs, die in patriarchalen Strukturen aufwachsen, auch eher dazu geneigt sind, Gewalt auszuüben.

Ahmad Mansour

Eine patriarchale Männlichkeit identifiziert sich mit dem Ausüben von Gewalt. Wenn patriarchalische Strukturen in meiner Familie dazu dienen, dass ich mich unterordne, dass ich Gehorsam zeige, wenn ich Gewalt als legitime Erziehungsmethode erlebe, wenn meine Individualität, meine Stärke, meine Wünsche, meine Bedürfnisse unterdrückt werden, dann hat das zwei Folgen. Zum einen verliere ich mein Selbstwertgefühl, was zu einem massiven Minderwertigkeitskomplex führt. Zweitens wird die Schwelle einer Kränkung sehr niedrig. Wenn Sie mich jetzt kritisieren und ich so unsicher bin, dann neige ich eher zu Gewalt als Lösungsmethode. Deshalb bleibt das nicht in der Familie, sondern geschieht auch draußen. Bei der kleinen Überforderung neigen diese Männer bereits zu Gewalt.

Wir dürfen auch noch etwas nicht vergessen. Männer in patriarchalischen Strukturen erleben kaum Regeln. Das heißt, sie haben viel Freiraum, sie dürfen alles machen, was sie wollen. Man achtet nicht darauf, wann sie nach Hause kommen. Man gibt ihnen bereits als Kinder das Gefühl, dass sie viel zu sagen haben im Vergleich zu Frauen. Diese Männer neigen dann dazu, in Schwierigkeiten mit Regeln und Strukturen zu kommen.

Das führt zu Grenzüberschreitungen, weil sie diese Regeln zu Hause nicht erlebt haben, die aber helfen, um in der Schule oder auf der Straße besser zurechtzukommen. 

Patrick Catuz

Das heißt, kontrolliert werden in erster Linie Frauen? 

Ahmad Mansour

Die Frau trägt in patriarchalischen Strukturen die Familienehre. Das heißt, ihr Verhalten betrifft nicht nur sie, sondern die ganze Familie. Wenn über meine Schwester gesprochen wird, dann wird meine Männlichkeit infrage gestellt, denn ich war nicht in der Lage, auf sie aufzupassen. Wenn sie jetzt einen Freund hat oder Sex vor der Ehe hat, betrifft das meine Autorität. Deshalb erleben Frauen in stark patriarchalischen Familien sehr früh ganz viele Regeln.

Es ist psychologisch sehr interessant – die jungen Männer erzählen uns dann immer wieder, dass ihre Eltern sich nie für sie interessiert hätten. Gab es keine Kontrolle? Als Jugendlicher konnte er um 3 Uhr nachts nach Hause kommen und die Eltern haben sich nicht interessiert. Das war aber kein Desinteresse. Er durfte das, seine Schwester aber nicht. Wenn sie um 18 Uhr nicht zu Hause ist, dann ist die gesamte Familie in Aufruhr. Dieses empfundene Desinteresse führt bei den Jungs auch zu einer gewissen Kränkung. 

Interessant ist auch, dass uns viele Richter erzählen, dass Intensivtäter häufig Schwestern haben, die entweder Abitur macht oder studiert. Das heißt, die gleiche Familie, die einen Intensivtäter produziert, jemand, der im Jahr Dutzende Straftaten begeht, hat auf der anderen Seite ein Mädchen, das im Zimmer nebenan großgeworden ist, und Karriere macht. Denn hier kann ein Mädchen Anerkennung nur durch Leistung bekommen. 

Patrick Catuz

Sie haben in einem Interview beschrieben, dass die Tabuisierung der Sexualität als Motor für Radikalisierung betrachtet werden kann. Was bedeutet das? 

Ahmad Mansour

Wenn es in einer Gesellschaft nicht eine legitime Möglichkeit gibt, Sexualität auszuleben, wenn mein Körper tabu ist, wenn ich keinen Freund oder Freundin haben darf, dann brauche ich viele Jahre, um legitim islamisch zu heiraten. Die Prozedur ist enorm schwierig und kompliziert. Und dann kommt der IS und sagt „Wir machen es viel einfacher, komm zu uns, du darfst nicht nur eine Frau heiraten, sondern mehrere, du kannst auch Sklaven zu Hause halten“. Dann kannst du scheinbar sehr unkompliziert deine Sexualität ausleben. Das ist für viele ein Motor, sich anzuschließen. Die Komplexität, die in der modernen kapitalistischen Gesellschaft besteht, existiert nicht mehr. 

Die Unterdrückung der Sexualität schafft eine Energie, schafft Spannung, Unzufriedenheit bis Hass, die zu Gewalt führen. Die stehen teilweise kurz vor der Explosion. Dann kommt der IS, die Gewalt als eine Ersatzhandlung für die Sexualität bietet.

Patrick Catuz

Sie plädieren dafür, dass man auch im Islam sexuelle Selbstbestimmung stärken sollte, um dem entgegenzuwirken – aber dafür sind ja Religionen im Allgemeinen nicht unbedingt bekannt. Kann das funktionieren? 

Ahmad Mansour

Ob man das religiös lösen kann oder nicht, ist mir eigentlich egal. Aber diese komplette Tabuisierung von Sexualität ist etwas, was viele Jugendliche viele Probleme bereitet. Und deshalb ist ein normaler Zugang zu meinem Körper, ein normaler Umgang mit dem anderen Geschlecht elementar, um in einer Gesellschaft wie Deutschland oder Österreich anzukommen und auch keine Angst zu haben vor dieser Gesellschaft. Ich meine, wenn wir über Integration sprechen, dann sprechen wir über Identität, das beinhaltet auch Verlustängste. Diese Männer, die anders sozialisiert sind, Männer aus patriarchalischen Strukturen, die erleben Integration nicht als etwas Positives. Wenn ihre Kinder anders mit ihrer Sexualität umgehen, als bei ihnen vorgeschrieben, dann erleben sie das als Risiko. Dann ist das etwas, was vielleicht Schande über die Familie bringt. Und deshalb neigen diese Menschen sehr schnell in Parallelgesellschaften zu gehen und sich davor zu schützen.

Umso wichtiger ist es, Freiräume zu schützen, dafür haben wir auch das Grundgesetz, also zu sagen, wer hier bei uns leben will, darf natürlich eigene Werte vermitteln, aber man darf ihre Selbstbestimmung nicht dermaßen unter Druck setzen.

Patrick Catuz

Wenn Sie sagen, dass Männlichkeit mit anderen Inhalten besetzt werden sollte, welche sollten das sein? 

Ahmad Mansour

Ich bin zunächst einmal absolut dagegen, Männlichkeit zu verteufeln. Wir können Männer nicht als etwas Bösartiges darstellen, sondern wir müssen Mannsein neu definieren. Das kann durch die Übernahme von Erziehungsaufgaben funktionieren, das kann die Bekämpfung von Minderwertigkeitskomplexen sein, das kann die Fähigkeit sein, sich zu beherrschen, das kann ein positiver Zugang zum eigenen Körper sein, oder auch auszuhalten, dass die Partnerin viel mehr verdient. Das sind alles Aspekte, wo wir gesamtgesellschaftlich ganz viele Probleme haben und vielleicht bei zukünftigen modernen Männlichkeitsbildern weniger Konflikte haben werden. 

Patrick Catuz

Wie holen wir die Menschen ab? 

Ahmad Mansour

Durch Präventionsarbeit. Das ist keine singuläre Maßnahme, unterschiedliche Menschen muss man unterschiedlich erreichen. Und wir müssen neue Vorbilder schaffen, aus der eigenen Community, Menschen, die anders mit ihrem Mann sein umgehen, mit ihrer Religion umgehen. Und dann brauchen wir Begegnung. Das heißt, wir müssen Parallelgesellschaften bekämpfen, wir müssen gesunde Durchmischung schaffen, indem wir Menschen ermöglichen, miteinander zu leben, zusammen zur Arbeit, zur Schule zu gehen.

Männer und insgesamt Menschen, die eine gewisse Zufriedenheit mit sich selber haben, neigen nicht zu Radikalisierung oder zu Gewalt, wie jene Menschen, die ein permanentes Kränkungsgefühl mit sich tragen und eigentlich einen Minderwertigkeitskomplex haben.